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Judith Glück rät zu lebenslanger Offenheit

Studien zeigen, dass das durchschnittliche Ausmaß an Offenheit im Laufe des Erwachsenenalters tendenziell abnimmt. Als junger Erwachsener probiert man noch vieles aus, man kann sich viele Entwicklungsmöglichkeiten vorstellen und ist bestrebt, die Beziehungsform, den Beruf, die Lebensweise zu finden, die am besten zur eigenen Persönlichkeit passt. Judith Glück fügt hinzu: „Dann entscheiden wir uns für einen Weg, und ab diesem Zeitpunkt steigen die emotionalen Kosten, die mit zu großer Offenheit einhergehen können. Irgendwann wollen wir das Leben leben, für das wir uns entschieden haben, und uns nicht länger fragen, wer wir eigentlich sind.“ Wenn man dazu noch Kinder hat und einen anstrengenden Beruf, ist man oft quasi im Autopilot unterwegs. Judith Glück ist seit 2007 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Die eigene Lösung muss nicht die bestmögliche sein

Man hat dann seine Überzeugungen und Werthaltungen und kein großes Interesse daran, sie laufend zu hinterfragen. Es wäre ja auch sehr anstrengend, wenn man sich ständig fragen müsste, ob die Prinzipien, an denen man sich orientiert, auch wirklich berechtigt sind. Nicht selten erlebt man es, dass Menschen geradezu wütend werden, wenn sie das Gefühl haben, dass andere ihre Lebensweise in Frage stellen. Auch wer sich selbst insgeheim manchmal fragt, ob er das Richtige tut, der hat es oft sehr nötig, seine Entscheidungen nach außen hin eisern zu verteidigen.

Heutzutage, wo es fast unbegrenzte Möglichkeiten der Aufteilung von Beruf und Familie gibt, müssen die allermeisten Eltern mit viel Mühe ein Modell entwickeln, das für sie und ihre Kinder funktioniert, und das gelingt nur selten völlig reibungsfrei und problemlos. Judith Glück stellt fest: „Schuldgefühle gegenüber den Kindern und oft auch gegenüber dem Beruf sind Teil des Lebens von fast allen Eltern kleiner Kinder.“ Da es keine perfekte Lösung gibt, hat man ein umso stärkeres Bedürfnis, sich selbst und andere davon zu überzeugen, dass die eigene Lösung die bestmögliche ist.

Weise Menschen sind sich der Grenzen ihres Wissens bewusst

Wie die Arbeiten der amerikanischen Entwicklungspsychologin Jane Loevinger zeigen, verlieren aber nicht alle Menschen mit dem Älterwerden ihre Offenheit. Vielleicht gelingt es weisen Menschen deshalb so gut, offen für andere Perspektiven und neue Erfahrungen zu bleiben, weil sie sich im Kern ihrer selbst sicher sind. Wenn jemand anders lebt oder eine andere Meinung hat als sie, bedeutet das nicht, dass sie etwas falsch machen, sondern nur, dass er einen anderen Erfahrungshintergrund hat oder sich in einer anderen Lebenssituation befindet.

Weise Menschen verhalten sich oft auch etwas paradox: Sehr oft wissen sie tatsächlich etwas, sie können aufgrund ihrer Erfahrungen gut beurteilen, was jemand in einer schwierigen Lebenslage tun sollte, aber zugleich sind sie sich auch der Grenzen ihres Wissens bewusst, denn vielleicht ist das, was sie für gut halten, für diesen Menschen nicht das Richtige. Es kommt deshalb nur selten vor, dass ein weiser Mensch jemandem, der ihn um Rat fragt, einfach sagt, was er tun soll – höchstens vielleicht dann, wenn er den Eindruck hat, dass der Ratsuchende genau das gerade braucht. Quelle: „Weisheit“ von Judith Glück

Von Hans Klumbies

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