Die Begegnung mit dem Selbst erzeugt Angst
Es mit sich selbst auszuhalten, bei sich selbst zu sein, ist für viele Menschen eine der schwierigsten Herausforderungen überhaupt. Warum löst die Vorstellung, sich selbst zu begegnen, bei ihnen – ob zu Recht oder Unrecht – Angst aus? Joachim Bauer erläutert: „Das Selbst ist nicht unbedingt eine Oase der Ruhe, sondern, jedenfalls bei vielen Menschen, ein unruhiges oder gar von ständigen Erdbeben erschüttertes und von schweren Verwerfungen betroffenes Terrain.“ Ein Grund dafür sind „negativ geladene“ Selbst-Teilstücke, die in den ersten Lebensjahren von Bezugspersonen ausgesandt und im Laufe des Lebens von bedeutsamen Anderen in die eigene Persönlichkeit hineinlanciert wurden. Sie sind zu einem Teil des eigenen Selbst geworden und geben seither keine Ruhe. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.
Kinder benötigen eine liebevolle Zuwendung
Selbst-Teilstücke, die ihren Weg in das Selbst eines Menschen gefunden haben, verhalten sich, wenn sie gegen das eigene Selbst gerichtet sind, nicht wie friedliche Mitbewohner, sondern wie dynamische Elemente, die man mit Programmen der digitalen Welt vergleichen könnte. Joachim Bauer stellt fest: „Selbst wenn wir uns bemühen, sie zu ignorieren, haben sie die Tendenz, sich immer wieder zu melden und unser Leben zu stören.“ Der Mensch unterliegt einem Dilemma: In den ersten Lebensmonaten und -jahren benötigt er, damit ein Selbst entstehen kann, an ihn adressierte Selbst-Elemente.
Doch nur, wenn diese Elemente auch Botschaften transportiert haben, die dem eigenen Selbst einen Wert zusprachen und Mut machten, machen sie das persönliche Selbst zu einer wohnlichen Welt. Joachim Bauer weiß: „Auch ob wir zu liebensfähigen Menschen werden, hängt von den Botschaften ab, die einst an uns adressiert und von uns internalisiert wurden.“ Der Grund, warum eine frühe, liebevolle Zuwendung für Kinder den geforderten hohen Stellenwert haben muss, ist, dass sie es später als Jugendliche und Erwachsene mit sich selbst aushalten können sollten.
Narzissten müssen Bewunderung erzwingen
Narzisstische Menschen haben – meist über einen der beiden Elternteile – den Anspruch internalisiert, im Leben eine hervorragende Rolle spielen zu müssen. Sie sind sich zugleich aber ihres Selbst ausgesprochen unsicher, was darauf zurückzuführen ist, dass sie regelmäßig in Frage gestellt oder gedemütigt wurden. Mit zwei derart widersprüchlichen inneren Ansagen zu leben, ist eine ausgesprochen qualvolle Situation, aus der es nur einen Ausweg gibt: Betroffene Menschen brauchen permanente Rückmeldungen, wie großartig sie sind.
Joachim Bauer erklärt: „Da halbwegs normale Mitmenschen den Selbstbeweihräucherungszirkus eines Narzissten nicht freiwillig mitzumachen bereit sind, müssen Narzissten die Bewunderung erzwingen.“ Das erreichen sie dadurch, dass sie andere unterwerfen, demütigen, in Angst versetzen und von sich abhängig machen. Sie tun also anderen das an, was ihnen selbst angetan wurde. Narzissmus findet sich nicht nur bei den Mächtigen dieser Welt wie zum Beispiel bei einigen führenden Männern in verschiedenen – kleinen und großen, demokratischen und autoritären – Staaten. Quelle: „Wie wir werden, wer wir sind“ von Joachim Bauer
Von Hans Klumbies