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Erwartungen können enttäuscht werden

Das menschliche Gehirn ruft fortwährend Vergangenes auf, um Gegenwärtiges zu verstehen und die unmittelbare Zukunft noch genauer und rascher vorhersagen zu können. Helga Kernstock-Redl erklärt: „Dabei ist es immer ein wenig spät dran, denn die hereinkommenden Informationen sind „veraltet“: Nervenleitung und Denkprozesse brauchen zumindest Sekundenbruchteile, die Rückmeldung an den Körper ebenfalls.“ Nur über Erwartungsbildung und die möglichst frühe und richtige Verallgemeinerung von Erfahrungen können sich Menschen so schnell und so sicher fortbewegen. Kleine Kinder, die Treppen steigen, haben noch wenige Vorerfahrungen. Sie erobern sich langsam jede einzelne Stufe, denn sie schauen sehr genau. Ihr Gehirn hat noch nichts verallgemeinert und schickt ihnen daher keine vorschnell gebildeten Erwartungen. Helga Kernstock-Redl ist Psychologin und Psychotherapeutin. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Psychologie der Gefühlswelt.

Manches Gehirn lernt zu engagiert

Besonders im zwischenmenschlichen Bereich tun die Menschen gut daran, immer wieder mal wie kleine Kinder unvoreingenommen an Dinge und Menschen heranzugehen. Dabei sollen sie möglichst bewusst wahrnehmen, was wirklich jetzt da ist, bevor sie handeln. Nachdem eine Erwartung enttäuscht wurde, stehen einem Menschen im Prinzip mehrere Wege offen: Gibt man für einen konkreten Irrtum der Umwelt die Schuld oder sich selbst? Ist die Sache überhaupt wichtig? Und bewertet man etwas daran als veränderbar?

Helga Kernstock-Redl weiß: „Natürlich können wir uns auch selbst verändern, im Verhalten oder zumindest in unseren Vorannahmen.“ Veränderungen zu erhoffen oder einzufordern, ist sinnlos. Solche Lernerfahrungen sind wichtig, denn sonst riskiert man die nächste Enttäuschung. Manches Gehirn lernt jedoch zu engagiert, verallgemeinert einzelne Erfahrungen und bildet daraus fixe Überzeugungen und Gesetze: „Immer sind die anderen schuld.“ „Schon wieder mache ich alles falsch.“ „Ich bin einfach so, ich kann mich nicht ändern.“

Die Wahrnehmung der Menschen ist selektiv

In der Psychologie werden solche Gewohnheiten des menschlichen Gehirns „Attributionsstile“ genannt. Sie können ein ziemlich stabiles Interpretationsmuster der Welt darstellen. Unberechtigte Schuld- und Opfergefühle können die Folge sein. Zu Schwierigkeiten führt eine zweite Eigenheit des Gehirns: Neben seinem unbändigen Lernwillen will es nämlich immer auch Energie sparen. Anders als gute Wissenschaftler oder Forscher möchte es sich selbst nicht gerne korrigieren müssen.

Daher nehmen Menschen bevorzugt genau das wahr, was Bestehendes verstärkt, also was sie erwarten. Anderes „übersehen“ sie automatisch oder wehren es bewusst ab. Die Psychologie kennt diese Phänomene schon lang als „selektive Wahrnehmung“ und „selbsterfüllende Prophezeiung“. Und hartnäckig will das Gehirn seine Erwartungen behalten. Helga Kernstock-Redl fügt hinzu: „Nun ist unser Gehirn natürlich so, wie es ist – und das seit Urzeiten und aus gutem Grund. Denn meistens hat es ungefähr recht mit dem, was es uns beständig an Erwartungen schickt, und bringt uns deshalb gut durch die Welt.“ Quelle: „Schuldgefühle“ von Helga Kernstock-Redl

Von Hans Klumbies

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