Allgemein 

Digitale Kontakte führen zur Erschöpfung

Mattias Desmet sieht einen direkten Zusammenhang zwischen Digitalisierung und dem Phänomen Depression. Depression ist in der klassischen psychotherapeutischen Theorie mit der frustrierenden Erfahrung der Hilflosigkeit verbunden, ausgelöst durch Passivität oder Abwesenheit eines geliebten Anderen – in erster Linie meist ein Elternteil. Das zahlt man diesem Anderen – und dem Anderen im Allgemeinen – sozusagen mit gleicher Münze heim: Man wird selbst passiv – das heißt, man fühlt sich depressiv. Digitale Kontakte führen zu einer ähnlichen Dynamik: Man fühlt sich hilflos gegenüber einem als unerreichbar und abwesend erfahrenen Anderen und reagiert mit Frustration und Passivität – das heißt, man fühlt sich erschöpft. Digitalisierung entmenschlicht ein Gespräch. Das geschieht meist verborgen und schleichend, manchmal zeichnet es sich aber auch haarscharf ab. Mattias Desmet ist Professor für Klinische Psychologie an der Abteilung für Psychoanalyse und klinische Beratung der Universität Gent.

Unsicherheit ist ein Merkmal par excellence der menschlichen Erfahrung

Digitale Gespräche kann man auch mit Menschen führen, die weit entfernt sind, und sie kosten weniger Anstrengung – zum Beispiel keine Fortbewegung –, das ist wahr, aber es spielt auch noch ein anderer, psychologischer Faktor eine Rolle. Mattias Desmet erklärt: „Unsicherheit ist ein Merkmal par excellence der menschlichen Erfahrung – kein Tier wird so vom Zweifel verfolgt oder stellt sich existenzielle Fragen –, und das gilt insbesondere für unser Verhältnis zum Anderen.“

Bei einem digitalen Gespräch, bei dem der Andere buchstäblich auf Distanz gehalten wird, aber dennoch erreichbar ist, stellen sich diese ewigen Fragen und die damit verbundene Unsicherheit und Angst weniger akut. Mattias Desmet ergänzt: „Das Gefühl der Kontrolle ist größer; es ist leichter, selektiv bestimmte Dinge zu zeigen und andere zu verbergen. Kurz: Man fühlt sich psychologisch sicherer und komfortabler hinter einer digitalen Mauer und zahlt dafür arglos den Preis eines Verlusts an Seele.“

Eine Ideologie passt die Wirklichkeit der Theorie an

Die Mechanisierung der Welt führt dazu, dass der Mensch den Kontakt zu seiner Umgebung verliert und zu einem atomisierten Objekt wird, der Art von Subjekt, in dem Hannah Arendt den elementaren Bestandteil des totalitären Staates erkannte. Mattias Desmet betont: „Wissenschaft passt ihre Theorie der Wirklichkeit an, Ideologie passt die Wirklichkeit der Theorie an. Das gilt auch für die mechanistische Ideologie: Sie wollte die Wirklichkeit ihrer theoretischen Fiktion anpassen.

Sie wollte die Natur und die Welt optimieren. Institutionen, die sich gern mit der Gesellschaft der Zukunft beschäftigen, wie das Weltwirtschaftsforum (WEF), gehen unbesehen davon aus, dass sich die Gesellschaft hin zu einem Digikosmos entwickeln wird – einer Gesellschaft, in der sich das menschliche Leben größtenteils online abspielt. Mattias Desmet kritisiert: „Die Umweltbewegung des 21. Jahrhunderts folgt erstaunlicherweise weitgehend diesem Trend.“ Quelle: „Die Psychologie des Totalitarismus“ von Mattias Desmet

Von Hans Klumbies

Related posts

Leave a Comment