Die Analyse des Charakters durch Wilhelm Reich
Wilhelm Reich zweifelte an der passiven Behandlungstechnik, die in der Psychoanalyse damals üblich war. Der Therapeut legte die Analysanden auf die Couch und überließ sie ihren freien Assoziationen. Diese waren oft sehr unergiebig und langweilig. Selbst routinierte Analytiker neigten bei den Sitzungen zum Einschlafen. Wilhelm Reich hielt das von Sigmund Freud entwickelte Behandlungsmodell nicht für ein Dogma. Er wollte nicht mehr dem andauernd vor sich hinschwatzenden Patienten zuhören, ohne selbst verbal einzugreifen. Wilhelm Reich hatte beobachtet, dass sich sehr oft auch in der guten Kooperation zwischen Therapeut und Patienten sehr viel Negativismus lauerte. Fast alle Patienten brachten Misstrauen und Aversionen in die Therapie, so dass die negative Übertragung selbst bei bester Zusammenarbeit irgendwo im Hintergrund immer vorhanden war.
Die Charakterwandlung soll die Liebe aus ihrer Erstarrung lösen
Wilhelm Reich folgerte daraus, dass es am besten wäre, die kritische Haltung des Patienten aktiv anzugehen, bevor sie sich von selbst offenbart. Dies erleichtert die wirkliche Kooperation und führt zu positiven Übertragungen. Er griff damit einen Fundamentalwiderstand an, der die Therapie entscheidend hemmen konnte.
Die Charakterstruktur der meisten Menschen ist laut Wilhelm Reich in erheblichem Maß von erstarrter Liebesfähigkeit und verfestigter Hassbereitschaft geprägt. Er erkannte, dass der Charakter entwickelt wird, um Liebe und Hass zu binden. Bei der Charakterwandlung kam es ihm darauf an, die Liebe aus ihrer Erstarrtheit zu lösen und für den Patienten wieder verfügbar zu machen.
Die Entwicklung des Charakters
Wilhelm Reich vertritt die Auffassung, dass der Mensch seinen Charakter entwickelt, um den Druck seiner Verdrängungen zu mildern und das Ich zu festigen. Der Narzissmus spielt in der Charakterbildung eine wesentliche Rolle. Das Ich soll durch die Eigenschaften des Charakters vor Wertminderung, vor Unlust und Angst geschützt werden.
Wenn sich dieser Sicherheitsapparat allerdings zu sehr verfestigt, kann der Betroffene kaum noch Lustgewinn oder Sicherheit empfinden. Der Charakterpanzer schützt zwar vor Gefahren, hindert den Menschen aber auch an vielen Entwicklungsmöglichkeiten. Es ist die Aufgabe der Therapie, dieses Panzer aufzubrechen. Denn dieser vermeintliche Schutz sorgt meist für mehr Schaden als Gewinn, da viele neurotische Reaktionen direkt von ihm abhängen, weil er zur Quelle von Angst und Frustration wird.
Kurzbiographie: Wilhelm Reich
Wilhelm Reich wurde am 24. März 1897 in Dobzau (Galizien) geboren. Er studierte Medizin, las aber während seines Studiums auch die Bücher der Philosophen Friedrich Nietzsche, Henri Bergson und F. A. Lange. Sein spezielles Interesse galt aber der Sexuologie. Intensiv studierte er auch die Texte Sigmund Freuds. 1920 trat Wilhelm Reich in die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft ein.
Ab 1924 arbeitete Wilhelm Reich an der Psychoanalytischen Poliklinik in Wien. Nach seinem Umzug nach Berlin gründete er 1930 die Sexpol-Bewegung, eine Vereinigung zur politischen und sexuellen Befreiung der Volksmassen. 1933 musste er von den Nazis fliehen, zuerst nach Wien, später nach Kopenhagen. Über Malmö in Schweden gelangte er 1934 nach Oslo. Hier entwickelter er sich immer mehr zum Lebensforscher, der das Urrätsel des Lebens lösen wollte.
1939 wanderte Wilhelm Reich in die USA aus. In New York arbeitete er erfolgreich als Psychoanalytiker und Vegetotherapeut. In seine so genannten Orgonlaboratorien forschte er nach den Geheimnissen des Kosmos und glaubte 1940 die Lebensenergie in der Atmosphäre entdeckt zu haben. Um diese Lebenskraft einzufangen und nutzbar zu machen, baute er so genannte Orgonakkumulatoren. Mit diesen Apparaten wollte er seelische und körperliche Krankheiten günstig beeinflussen.
1954 wurde Wilhelm Reich von der amerikanischen Gesundheitsbehörde (FDA) wegen Quacksalberei vor Gericht zitiert. Er wurde inhaftiert und seine Akkumulatoren und Schriften vernichtet. Am 3. November 1957 starb der herzkranke Universalforscher im Zuchthaus Lewisburg.
Von Hans Klumbies