Viele Männer sind gnadenlose Pragmatiker
Vor zehn Jahren erschien eine ganze Serie von Texten über die sonderbare Verweichlichung junger Männer: Die neue Männergeneration sei ängstlich und gehemmt. Eine Dekade später hat sich das Blatt gewendet. Tobias Haberl schreibt: „Inzwischen haben sich die Melancholiker von damals in gnadenlose Pragmatiker verwandelt, deren Lebensziel darin zu bestehen scheint, keine Fehler zu machen, niemanden vor den Kopf zu stoßen und auf einem Handy mit möglichst langer Akkulaufzeit herumzuwischen.“ Wenn sie mit einer mediterranen Bowl in den Hotspots urbanen Lebensgefühls rumsitzen oder zur „Power Hour“ im Fitnessstudio aufkreuzen, muss Tobias Haberl immer an Gärten in Neubausiedlungen denken, in denen vor lauter geometrischer Kiesbeete, nichts mehr blüht oder duftet. Der Literaturwissenschaftler Tobias Haberl schreibt für das „Süddeutsche Zeitung Magazin“. Sein letztes Buch „Die große Entzauberung – Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen“ wurde ein Bestseller.
Der pragmatische Mann vertraut Algorithmen mehr als Menschen
Man ahnt das Potenzial, aber alles ist gebändigt und zurechtgestutzt, nichts schießt über, wächst wild oder bricht sich Bahn – selbstverständlich gegen sie regelmäßig zur Haarentfernung mit Bio-Wachs. Tobias Haberl fügt hinzu: „Diese Männer sind zielstrebig und haben ein ausgeprägtes Interesse an Sicherheit. Sie sind brav, beflissen und gefällig, ein bisschen wie Kinofilme mit Matthias Schweighöfer.“ Enttäuschungen beugen sie vor, Versuchungen können sie glänzend widerstehen, auf Spiele, die sie verlieren könnten, lassen sie sich gar nicht erst ein.
Ihre Träume kommen der Wirklichkeit nicht in die Quere, weil sie keine haben. Tobias Haberl ergänzt: „Das Rauschen der iPad-Lüftung ist der Sound ihres Lebens, auf die Knie fallen sie nur, um das Notebook-Kabel einzustecken, selbstverständlich vertrauen sie Algorithmen mehr als Menschen, weil die nie müde werden, längst ist jeder Winkel ihrer Seele digital erreichbar.“ Ihre Dämonen haben sie verdrängt, ihre Abgründe versiegelt, rauschhafte Ausschweifungen sollen ihnen nicht die Wochenperformance verhageln.
Pragmatiker sind weder lässig noch cool
Am Ende ihres Lebens werden sie die meiste Zeit mit ihrem Notebook verbracht haben, dabei sind sie, und das macht die Sache nicht leichter, oft ganz sympathisch. Tobias Haberl stellt fest: „Sie wollen nicht schnell und gefährlich, sondern gesund und lange leben, weshalb sie YouTube-Kanäle zu den Themen Ernährung und Achtsamkeit abonniert und dieses internetaffine Spinning-Bike erworben haben, auf dem sie zusammen mit Webdesignern aus Tel Aviv ihre Performance steigern.“
Tobias Haberl erläutert: „Suchen sie Entspannung, schauen sie ein Kaminfeuer-Video, suchen sie Spaß, verabreden sie sich in einer Event-Location, wollen sie lässig wirken – und das wollen sie immer, weil sie ahnen, dass sie es nicht sind –, tragen sie zum Anzug weiße Turnschuhe, was wirklich nur achtzigjährige Franzosen tun sollten, die im Park Boule spielen.“ Seit Neuestem interessieren sie sich für Politik, die Grünen finden sie „erfrischend“, wirklich am Herzen liegt ihnen vor allem die Zurschaustellung ihres guten Geschmacks. Quelle: „Der gekränkte Mann“ von Tobias Haberl
Von Hans Klumbies