Scott Atran betreibt Forschung unter radikalen Islamisten
Den amerikanischen Anthropologen Scott Atran treibt schon seit Jahren die Frage um, warum Menschen ihr Leben für eine Sache opfern. Er hat durch seine Feldstudien herausgefunden, dass da weder Irre noch lebensmüde Nihilisten am Werk sind. Scott Atran erklärt: „In der Regel sind das ganz normale Leute. Etliche Studien haben schon nach auffälligen Merkmalen gesucht und nichts gefunden.“ Der erste Schlüssel zum Verständnis des Selbstopfers ist für Sott Atran, dass der Kampftrupp von den Kämpfern als eine fiktive Familie betrachtet wird. Menschen wie du und ich verwandeln sich in Fremdenlegionäre des Dschihad, in furiose Kämpfer, die den Tod nicht mehr scheuen. So verrückt dieser Opfermut sein mag – der Erfolg im Gefecht, so scheint es, gibt ihm recht. Scott Atran reist seit Jahren um die Welt und betreibt Forschung unter radikalen Islamisten und ihren Gegenspielern.
Die Islamisten kämpfen für das Kalifat bis zum Tod
Scott Atran erläutert: „Rein militärisch würde die belgische Armee genügen, den Islamischen Staat (IS) zu schlagen, gleichen Kampfgeist vorausgesetzt.“ In Wahrheit aber können es die Islamisten auch mit einer zehnfachen Übermacht aufnehmen. Scott Atran fährt fort: „Sie haben fast nichts, keine Luftwaffe, keine Artillerie. Und doch widerstehen sie einer Koalition von über 60 Staaten, der sie an Zahl und Bewaffnung weit unterlegen sind. Sie sind immer noch da, kämpfend bis zum Tod.“ Allerdings ist der IS inzwischen schon längst in die Defensive geraten.
Im Dschihad sieht Scott Atran vor allem eine Sammelbewegung für junge Leute, die sich vom unumschränkten Kapitalismus abgestoßen, gekränkt oder verstört fühlen. Der Forscher stellt fest: „Oft stecken sie gerade in Übergangsphasen, zwischen Elternhaus und Studium oder am Ende einer Beziehung.“ Der Kampf für das Kalifat bietet den Anhängern eine aufregende Mission, veredelt mit Transzendenz und Glorienschein – und Bewunderung von Gleichgesinnten. Die Bewegung versteht sich keineswegs nur als destruktiv. Scott Atran betont: „Die Leute wollen die Welt retten.“
Der Ursprung für die Opferbereitschaft liegt in der Familie
Die Entscheidung für den Dschihad ist laut Scott Atran meist ein sozialer Akt: „Drei Viertel der Kämpfer aus dem Ausland kommen in Gruppen, zusammen mit ihren Kumpeln.“ Viele haben sich beim Sport radikalisiert, beim Fußball oder Bodybuilding. Oder eben im Knast. Im Kampf bleiben solche Einheiten oft zusammen; sie bilden „Bands of Brothers“, die wie Brüder füreinander einstehen. Der Forscher ergänzt: „Ihr Leben hat durchaus etwas Fröhliches, sie fühlen sich unbesiegbar und erhaben.“ Grausamkeit gegen Ungläubige gehört aber ebenso dazu.
Scott Atran fährt fort: „Kaum etwas verbindet eine Gruppe so stark wie gemeinsames Blutvergießen.“ Der Ursprung für die Opferbereitschaft liegt wahrscheinlich in der Familie. Aus Sicht der Evolution kann es sich lohnen, wenn ein Mensch für seine Verwandten stirbt – seine Gene leben in ihnen weiter. Scott Atran fügt hinzu: „Diese Hingabe lässt sich aber umfunktionieren und auf genetisch Fremde übertragen. Wer das schafft, hat einen mächtigen Mechanismus in der Hand.“ Quelle: Der Spiegel
Von Hans Klumbies