Es gibt eine dunkle Seite des Mitgefühls
Die dunklen Seiten der Empathie beziehen sich nicht auf den Menschen, sondern auf die Situation, in der er sich befindet. Heinz Bude erläutert: „Der empathische Beobachter schlüpft in die Haut des anderen, indem er sich die Umstände veranschaulicht, die die andere Person so und nicht anders erscheinen lassen.“ Man fühlt mit, wie der andere jetzt ist und im nächsten Augenblick sein wird. Zum Beispiel die Peinlichkeit einer Situation, das Ungeschick in der Rolle und das Bemühen um Haltung werden dem Beobachter zum erlebten Faktum. Auf dieses reagiert er mit Sorge, Bestürzung oder Durchatmen. Dabei besitzt der empathische Beobachter einen Vorteil an Klarheit und Voraussicht. Heinz Bude studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit dem Jahr 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.
Der empathische Beobachter fühlt mit dem anderen mit
Normalerweise lassen die meisten Menschen im Alltag die Situationen ziemlich verschwommen und schemenhaft an sich vorbeiziehen. Man geht achtlos weiter, macht einen Bogen ums Geschehen oder schüttelt innerlich den Kopf über das, was man von nebenan hört. Wenn man sich aber plötzlich in die Situation eines anderen Menschen versetzt sich, verändert sich das. Die Person ist dann in einer ungeheuren Schnelligkeit in der Lage, aufgrund einiger weniger Merkmale der Situation den Zustand des Gegenübers zu erfassen.
Jemand stolpert, verliert den Faden oder fängt mit einem Mal an zu lachen. Man kann Dinge wahrnehmen, die der andere noch nicht registriert hat. Und man kann Konsequenzen erwägen, die der andere nicht im Blick haben kann. Man bemerkt zum Beispiel, wie sich die Farbe im Gesicht verändert und welchen Ton die Stimme unversehens annimmt. Und man kann diese vielfältigen Informationen in einem Gesamteindruck des Befindens mit einem Schlag zusammenfassen. Der Beobachter sieht, was los ist, und kann mitfühlen, wie es dem anderen geht.
Solidarität verbessert den Zustand meines Nächsten
Heinz Bude erklärt: „Empathie heißt nicht, dass ich einen direkten Draht zum anderen hätte. Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht. Und kann mir auch nicht ausmalen, welche Bilder deiner Kindheit in diesem Moment für dich wachgerufen werden.“ Aber der Beobachter kann sehr wohl erkennen, was den anderen jetzt völlig aus dem Tritt bringen würde oder wie die Situation im Nu gelöst werden könnte. Eine direkte Simulation von Gefühlen und Empfindungen ist bei diesem Vorgang nicht notwendig.
Eine Person kann aber seine Wahrnehmung mit Gefühlen verbinden, weil sie Situationen dieser Art kennt und weiß, wie man sich dann fühlt. Ob die Situation einen dazu einlädt, dass man dem anderen irgendwie zur Hilfe kommt, ist eine ganz andere Frage. Der Beobachter könnte sich auch zurücklehnen und wie ein Sadist genießen, wie der andere schwitzt und kämpft. Solidarisch wäre man mit einer anderen Person erst dann, wenn die persönliche Empathie dazu führt, dass sich der Zustand meines Mitbürgers oder meines Nächsten irgendwie verbessert. Quelle: „Solidarität“ von Heinz Bude
Von Hans Klumbies