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Viele stellen ihr Selbst vor den Anderen aus

Sag, wer Du bist. Sag, was Du fühlst. Selbstauskunft ist gut für alle. Valentin Groebner fügt hinzu: „Und sie ist nicht nur gut, sondern unverzichtbar. Ganz ehrlich, einfach und natürlich, unverstellt und ohne Künstelei.“ Aber geht das, über sich selbst Auskunft geben? Seit dem 4. Lateralkonzil von 1215 war jeder gläubige Christ verpflichtet, einmal pro Jahr bei einem Priester die Beichte abzulegen und ihm alle seine Verfehlungen und Sünden zu berichten. Besonders dafür abgetrennte Räume im Inneren der Kirchen wurden erst dreihundert Jahre später üblich. Öffentlich stattfinden sollte das auch später. Valentin Groebner lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Seit 2017 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Selbstauskunft ist freiwillige Unfreiwilligkeit

„Selbstkritik“, schrieb Rosa Luxemburg 1916, „rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung“. Ab den 1920er Jahren erwartete man von jedem Mitglied der kommunistischen Partei, den Parteigenossen regelmäßig über sich und die eigenen Fehler Auskunft zu geben. „Im Modus der Singularität“, schrieb der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz 2016, „wird das eigene Leben nicht einfach gelebt, sondern ausgestellt. Das spätmoderne Subjekt performed sein besonderes Selbst vor den Anderen, die Publikum werden.“

Selbstauskunft ist freiwillige Unfreiwilligkeit. Michel de Montaignes Auskunft über sich selbst von 1580 war ein so erfolgreiches Buch, dass es als „Essais“ – wörtlich: Versuche – gleich einer ganzen Literaturgattung den Namen gegeben hat. Valentin Groebner weiß: „Montaigne war allerdings nicht der zurückgezogene Philosoph, als der er sich in seinem Buch repräsentierte.“ Um ihn tobte ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten. Und er war mittendrin als Vermittler – der Riss zwischen den religiösen Parteien lief quer durch seine eigene Familie.

Morgen bin ich vielleicht schon ein anderer

In seinen Essays ist davon nicht die Rede. Sie heißen „Über das Nichtstun“, „Über die Lüge“, „Über die Einbildungskraft“, aber auch: „Über die Grausamkeit“ und „Durch verschiedene Mittel gelangt man zum selben Ziel. Michel de Montaigne interessierte die Verwandlung und die Unkontrollierbarkeit der Dinge. Er wolle, schreibt er, „hier nichts weiter als mich selbst entdecken, wie ich bin, und bin morgen vielleicht schon ein anderer.“ Und: „Die beste an meinen körperlichen Anlagen ist die Biegsamkeit.“

Valentin Groebner stellt fest: „Während Montaigne schrieb, wurde überall in Europa die Zensur eingefügt.“ Die religiösen Obrigkeiten in der Welt, die Michel de Montaigne bewohnte, wollten ganz genau wissen, woran ihre Untertanen glaubten. Kotrollier Dein Gewissen. Sag, was Du denkst. Selbstauskunft handelt aber stets von sehr viel mehr als nur von der Person, die da von sich erzählen soll. Aber ist es klug, immer die Wahrheit über sich mitzuteilen? Quelle: „Bin ich das?“ von Valentin Groebner

Von Hans Klumbies

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