Friedrich Hebbel: "Dem Auge soll man trauen, nicht dem Ohr!
Für die Empfindung der Scham spielt das Auge eine ganz wichtige Rolle. In einem bestimmten, schutzlosen Augenblick gesehen zu werden, kann ein derartig tiefes Schamgefühl erzeugen, dass radikale Genugtuung unausweichlich erscheint. Das heimlich beobachtet werden stellt den Urmythos einer existenziellen Angst dar. Ulrich Greiner erklärt: „Jeder weiß von ihr, jeder kennt das in Alpträumen auftauchende Erschrecken, unversehens gesehen zu werden, und viele Filme spielen mit dieser Angst, mit dem Gang durch Zimmer und Flure, hinter deren Türen der unheimliche Beobachter sich verbirgt.“ Die Angst ist dabei die schwarze Variante des Spiels: „Ich seh etwas, was du nicht siehst!“ Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.
Das Auge ist auf die Wechselwirkung der Individuen angelegt
Der Sehsinn ist etwas ganz besonders. In seiner Soziologie erläutert Georg Simmel: „Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt. Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht.“ Das Besondere an dieser Wechselbeziehung ist, dass man sich in dem Blick, der den anderen in sich aufnimmt, selbst offenbart.
Mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekte preis. Der Mensch kann iden lässt. Sicher nicht nur, weil uns so mindestens sinnlich festzustellen erspart bleibt, dass und wie uns der Andre in solch peinlicher und verwirrender Lage anblickt.“
Der Blick kann als physische Verletzung erfahren werden
Wer den Andern isten Menschen neigen dazu, von einer Vergewaltigung nur dann zu sprechen, wenn sie tatsächlich und körperlich geschieht.
Doch man kann die Dinge auch anders betrachten. Christina von Braun weist in ihrem Buch „Versuch über den Schwindel“ darauf hin, „dass der Blick als physische Verletzung erfahren werden kann.“ In der Geschichte des Sehens findet die Autorin eine Vorherrschaft des männlichen Blicks und spricht von „Penetration“. Die Ermächtigung des Blicks richtet sich laut Christina von Braun vornehmlich gegen den weiblichen Körper und merkt zum Thema Missbrauch an: „Dass auch da, wo kein konkreter sexueller Missbrauch stattgefunden hat, dennoch der Blick auf den weiblichen Körper als Missbrauch erfahren werden kann.“
Von Hans Klumbies