Kinder dürfen ihren Zorn und Schmerz nur selten artikulieren
Auch wenn das Kleinkind in der sogenannten analen Phase seiner psychosexuellen Entwicklung neben dem lustvollen An- und Entspannen der Schließmuskulatur und dem Einüben auch aller Muskelbewegungen, seinen Willen trainiert und seine Bezugsperson mit Ungehorsam oft zur Verzweiflung treibt, ist das keineswegs ein Endpunkt der Persönlichkeitsentwicklung. Rotraud A. Perner erläutert: „Im Gegensatz zur oralen Wut mit ihrem Geschrei und Gezappel, die kein Ziel kennt, sondern nur Ausdruck von Unbehagen darstellt, richtet sich der anale Zorn gegen irgendetwas – ein Ding, einen Menschen, späterhin dann auch bestimmte Gruppen von Menschen, Frauen etwa, eine politische Partei, eine Religion oder auch die gesamte Gesellschaft. Rotraud A. Perner ist Juristin, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und absolvierte postgraduale Studien in Soziologie und evangelischer Theologie. Sie lehrt an der Donau-Universität Krems.
Der Zorn kann als Reaktion auf einen Reiz rückverfolgt werden
So wie jede Emotion, jedes Gefühl und jeder Handlungsimpuls als Reaktion auf irgendeinen Reiz rückverfolgt werden kann, gilt das auch für den Zorn. Die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller (1923 – 2010) warnt: „Die größte Grausamkeit, die man den Kindern zufügt, besteht wohl darin, dass sie ihren Zorn und Schmerz nicht artikulieren dürfen, ohne Gefahr zu laufen, die Liebe und Zuwendung der Eltern zu verlieren.“
Eltern müssen ihren Kindern die Hintergründe des Zorns erklären
Eltern dagegen, die sich ihre Fürsorgepflicht und Erziehungsmacht fürsorglich stellen, sollten wissen, dass der einzige Weg, Kinder und auch sich selbst zu helfen, nicht Sklaven ihres Zorns zu werden und auf Dauer zu bleiben, darin besteht, ihnen in Ruhe die Erklärungen solcher heftigen Emotionen zu liefern und damit ein Vorbild zu geben. Rotraud A. Perner ergänzt: „Wichtig ist, dass man dabei wirklich ruhig bleibt – dass man also den Gefühlsausbruch des Kindes erträgt, ohne sich anstecken zu lassen, und das gelingt am besten, wenn man seine eigene Atmung kontrolliert.“
Im Zorn kann kein Mensch vernünftig denken, daher braucht es für später die Einübung, wie man aus Zorn Kraft macht. Deswegen sollte man sich auf keinen Fall von heftigen Gefühlen anderer anstecken lassen. Rotraud A. Perner kritisiert: „Genau diese Selbstkontrolle oder auch Selbstbeherrschung lehnen viele ab, weil sie in Kampfkategorien denken und daher wähnen, dies würde bedeuten, dass die andere Person Sieger ist und man selbst ein Versager.“ Vor allem kleine Kinder werden so jenseits aller Realitätssicht zu Strategen hochstilisiert, die man dafür bestrafen muss, dass sie nicht gehorsam unausgesprochenen Befehlen folgen.
Von Hans Klumbies