Schweigen kann sehr vielfältig sein
Schweigen hat im Zusammenhang mit Rache eine besondere Funktion. Reinhard Haller erklärt: „Es steht irgendwo zwischen Fantasieanregung und verübter Rache, zwischen Nährboden für Rachevorstellungen und einer ganz speziellen Form der Rache.“ Ähnlich wie beim Kränkungsthema, bei dem Schweigen genauso eine besondere Art des Kränkens wie auch Ausdruck des Gekränktseins sein kann, lässt sich durch Anschweigen seiner Mitmenschen Rache ausüben oder betroffenes Schweigen als Reaktion auf eine Lieblosigkeit zeigen. Schweigen ist sehr vielfältig, es kann meditativ und ehrfürchtig, einfühlsam und betroffen, beredt und vielsagend, ängstlich und peinlich sein, aber auch entwertend und aggressiv. Prof. Dr. med. Reinhard Haller war als Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe über viele Jahre Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik. Heute führt er eine fachärztliche Praxis in Feldkirch (Österreich).
Schweigen leugnet die Existenz eines Menschen
Sehr häufig rächt man sich an Bezugs- und Kontaktpersonen, indem man sie nicht grüßt, ihnen nicht antwortet, sie keines Blickes würdigt und ihnen dadurch tiefe Verachtung angedeihen lässt. Reinhard Haller fügt hinzu: „Wenn der Mitmensch kein Wort mehr wert ist, soll durch das Schweigen zum Ausdruck gebracht werden, dass er gar nicht mehr existiert.“ Für Situationen, in welchen Individuen von ihren Mitmenschen nicht beachtet, nicht angesprochen oder ausgeschlossen werden, gibt es sogar einen Fachausdruck: Ostrazismus.
Dieser aus dem griechischen stammende Fachausdruck leitet sich vom Begriff für „Scherbengericht“ ab. Dieses war ursprünglich ein Ritual, bei dem die Bürger Athens einmal im Jahr die Namen von unliebsam gewordenen Bürgern auf Tonscherben schreiben konnten. Reinhard Haller ergänzt: „Hatte jemand 6.000 Stimmen gegen sich, musste er für fünf oder zehn Jahre in die Verbannung gehen, konnte aber sein Vermögen und seine Ehre behalten.“ In der empirischen Sozialpsychologie wurde dieses Begriffs für Prozesse der Ausgrenzung von Personen oder Gruppen und deren psychosozialen Folgen übernommen, später aber durch jenen des „Mobbings“ ersetzt.
Anschweigen gehört zu den klassischen Methoden des Mobbings
Der Ostrazismus ruft, so folgern manche Wissenschaftler, eine elementare Wut- und Trauer-Reaktion hervor, die sogar als Lebensgefahr gefühlt werden kann. Reinhard Haller blickt zurück: „Denn der Ausschluss aus der schützenden Gruppe sei für unsere Ur-Vorfahren einem Todesurteil gleichgekommen.“ Ostrazismus kann ein derart starkes Verlangen in einem Menschen wecken, dazu zu gehören und von irgendjemanden gemocht zu werde, dass die Fähigkeit schwindet, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.
Das geht sogar so weit, dass man sich von so ziemlich jeder Gruppe angezogen fühlt, die bereit ist, einen aufzunehmen – sogar von Sekten und Extremisten. Reinhard Haller stellt fest: „Welche schwere Rache Ostrazismus sein kann, zeigt sich in den Tatsachen, dass im alten Rom die Verbannung im Vergleich zur Todesstrafe als härter angesehen wurde und demonstratives Nichtbeachten durch Anschweigen zu den klassischen Methoden des Mobbings geworden ist.“ Quelle: „Rache“ von Reinhard Haller
Von Hans Klumbies