Die Selbstbehauptung der inneren Wahrheit zeugt von Ehre
Zur ultimativen Aufklärung zählt Rotraud A. Perner nicht nur das Nachforschen, wer aus bestimmten Aktionen und Konstellationen welchen Gewinn ziehen will und wird, sondern auch, welche Werte damit verwirklicht werden. Manche Berufe verlangen von ihren Angehörigen Eide, mit denen sie sich darauf verpflichten, darauf zu achten, keinen Schaden anzurichten, Verschwiegenheit zu bewahren oder auch sich ihren Erziehungs- oder Fürsorgeunterworfnenen nicht sexuell zu nähern. Man spricht in diesen Fällen von Ethikrichtlinien oder auch von Standesehre. Ehre oder auch Würde sind heute aber vielfach als Werte verloren gegangen. Unter Ehre versteht Rotraud A. Perner nicht bloß als Anspruch auf Ehrerbietung oder Ehrungen, sondern als Kern der Selbstachtung und Selbstbehauptung der inneren Wahrheit. Rotraud A. Perner ist Juristin, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und absolvierte postgraduale Studien in Soziologie und evangelischer Theologie. Eines ihrer aktuellen Bücher heißt „Die reuelose Gesellschaft“ und ist im Residenz Verlag erschienen.
Die Gleichgültigkeit bedroht die Demokratisierung
Wenn Jugendliche oder Erwachsene ihre Ehre verteidigen, stößt das auf ein begriffliches Vakuum. Die Reaktionen sind einerseits Bewunderung, andererseits auch Ablehnung, dort nämlich, wo man sich in Konkurrenz und potenziell unterlegen fühlt. Christopher Lasch (amerikanischer Historiker und Sozialkritiker) schreibt: „Demokratie verlangt auch eine vitalere Ethik als Toleranz. Toleranz ist eine wichtige Qualität, aber sie ist nur der Anfang der Demokratie, nicht ihr Endzweck. In unserer Zeit ist die Demokratisierung stärker durch Gleichgültigkeit bedroht als durch Intoleranz und Aberglauben.“
Viele Menschen sind allzu geübt darin geworden, Ausreden für sich selbst – und schlimmer noch: für die Benachteiligten – zu erfinden. Sie sind so sehr damit beschäftigt, ihre Rechte zu verteidigen, dass sie kaum einen Gedanken auf ihre Verantwortung und ihre Pflichten verschwenden. Sie sagen selten, was sie denken, aus Angst, Anstoß zu erregen. Sie sind fest entschlossen, jede und jeden zu respektieren, haben aber dabei vergessen, dass Respekt verdient werden muss. Für Christopher Lasch ist Respekt nicht nur ein anderes Wort für Toleranz oder Akzeptanz.
Missstände müssen angesprochen werden
Christopher Lasch erklärt: „Respekt ist das, was wir angesichts bewunderungswerter Leistungen, bewundernswert geformter Charaktere oder gut genutzter Gaben empfinden. Respekt bedeutet die Fähigkeit zu differenzierter Urteilsfähigkeit, nicht undifferenzierter Akzeptanz.“ Andere zu schonen, indem man ihnen die eigene Wahrheit nicht zumutet, ist unehrenhaft. Das ist nicht Trägheit oder Hochmut, sondern einfach unehrlich. Auch Christopher Lasch kritisiert, dass diejenigen, die soziale Verantwortung im Munde führen, sich scheuen, Verantwortung einzufordern.
Ein fehlgeleitetes Mitgefühl degradiert die Opfer, indem es sie auf Objekte der Bemitleidung reduziert, und es degradiert auch die Möchtegern-Wohltäter, die ihre Mitbürger lieber bemitleiden, statt sie an überpersönlichen Maßstäben zu messen, deren Erfüllung ihnen ein Recht auf Achtung verleihen würde. Wenn man etwas bemerkt, das man nicht in Ordnung findet und das verbessert werden sollte, und man kann oder will nicht selbst tätig werden, so wird dies erst ehrenhaft, wenn beides ausgesprochen wird, denn sonst nimmt man dem anderen die Chance der Entscheidung, selbst tätig zu werden. Quelle: „Die reuelose Gesellschaft“ von Rotraud A. Perner
Von Hans Klumbies