Das soziale Unbewusste ist ein Teil der Kultur
Viele Überzeugungen eines Menschen liegen in einer weitgehend undefinierten Form vor, die Terry Eagleton als soziales Unbewusstes bezeichnet. Dabei handelt es sich um jenen riesigen Bestand an Instinkten, Vorurteilen, religiösen Einstellungen, Empfindungen, halb ausgeformten Meinungen und spontanen Annahmen, die das Substrat der das Substrat der alltäglichen Verhaltensweisen bilden und die man selten in Frage stellt. Terry Eagleton ergänzt: „Tatsächlich sind einige dieser Annahmen so tief verwurzelt, dass wir sie vermutlich nur in Zweifel ziehen könnten, wenn es zu einer weitreichenden Veränderung unsere Lebensweise käme, die sie uns zum ersten Mal deutlich zu Bewusstsein brächt.“ Dieses soziale Unbewusste ist ein Aspekt dessen, was man unter Kultur versteht. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.
In der Sexualität sind die Menschen am babyhaftesten
Darin liegt eine gewisse Ironie, weil Kultur im Sinne von Kunst und geistigen Hervorbringungen zu den erlesensten Bewusstseinsinhalten menschlicher Tätigkeit gehört. So betrachtet, wäre uns Kultur einerseits bewusster als die meisten anderen Dinge, die man tut, und andererseits erheblich unbewusster. In der zweiten Bedeutung bildet sie die unsichtbare Grundfärbung der Alltagsexistenz, ihre fraglos hingenommene Textur, das, was Jacques Lacan „das Andere“ nennt, den nie ganz erfassbaren Kontext, in dem all das Sprechen und Verhalten eines Menschen einen Sinn erhält.
In ähnlicher Weise ist für Sigmund Freud das Ich notwendigerweise blind für vieles, was es ausmacht. Das, was zu seiner Bildung beiträgt, kann nicht Teil des Ichs sein. Es entsteht nur durch eine schmerzliche Verdrängung der Prozesse, die es konstituieren – ein Trauma, von dem es sich nie ganz erholen wird. Niemanden gelingt es, die Urkatastrophe ganz zu überwinden, die man als frühe Kindheit bezeichnet. Das liegt unter anderem daran, dass Menschen sexuelle Tiere sind, und in der Sexualität sind sie am babyhaftesten, nicht am reifsten.
Alle Menschen sind bis zu einem gewissen Grad von einer Neurose betroffen
Terry Eagleton schreibt: „Paradoxerweise ist also ein gewisses Maß an Verdrängung gut für uns. Selbstblindheit und etwas barmherzige Amnesie sind nach Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud die Voraussetzung dafür, dass wir uns überhaupt entwickeln können.“ Sicher, bei zu viel Verdrängung ist die Gefahr groß, dass man krank wird, krank durch unbefriedigtes Begehren – Sigmund Freuds Neurose, von der alle Menschen bis zu einem gewissen Grad betroffen sind. Für Sigmund Freud ist das menschliche Tier das kranke Tier.
Allerdings sind Menschen auf eine Weise krank, die sie nicht nur schwächt, sondern auch Produktivität freisetzt. Sicher, Menschen haben die Möglichkeit zur Selbstreflexion. Sie können eine Situation überdenken – das ist eine der Verbindungen, die sie zur Welt unterhalten. Doch nach Sigmund Freuds Auffassung reicht diese Selbstreflexion nicht aus, um einen Menschen zu retten. Noch niemand wurde von seiner Neurose geheilt, nur weil er intelligent genug war, seine seelische Situation zu reflektieren. Quelle: „Kultur“ von Terry Eagleton
Von Hans Klumbies