Tobias Haberl kennt die zeitgemäßen Männer
Tobias Haberl schreibt: „Als Udo Lindenberg fünfundsiebzig wurde, verriet er einem Journalisten, wie er sich seine Verrücktheit und Sehnsucht bewahrt habe: Er sei eben nicht zu dem geworden, was man sich in Deutschland als erwachsen vorstelle. Stattdessen habe er alle Normalitätsangebot abgelehnt.“ Udo Lindenberg sagt: „Ich habe mir meine Seele als eine Art Rutschbahn eingerichtet, auf der ich bis in meine Kindheit oder Jugend zurückrutschen kann.“ Die Männer von heute machen es umgekehrt: Ihre Jugend verbringen sie damit, ihr Erwachsenenleben zu planen, dann machen sie einen Bachelor in irgendwas und fangen zehn Jahre später an, sich wie Rentner zu benehmen, also ihre Wochenenden vor allem damit zu verbringen, Mürbeteig zu kneten oder Pfirsiche einzuwecken. Der Literaturwissenschaftler Tobias Haberl schreibt für das „Süddeutsche Zeitung Magazin“. Sein letztes Buch „Die große Entzauberung – Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen“ wurde ein Bestseller.
Viele zeitgemäße Männer verachten die Alphatypen des 20. Jahrhunderts
Die Männer von heute können nichts dafür, dass sie in halben Zügen vor sich hin existieren, sie passen sich lediglich den Anforderungen der spätmodernen Gesellschaft an. Tobias Haberl ergänzt: „Dafür sind sie ein bisschen egoistisch, ein bisschen ökologisch, ein bisschen moralisch, ein bisschen originell, ein bisschen vernünftig, ein bisschen flexibel, ein bisschen verlogen und sichern allzu übermütige Textnachrichten lieber mal mit einem Zwinkersmiley ab.“
Die Ersten verlassen kaum noch ihre Wohnung, weil sich ihre Digital-Abos – Peleton, Netflix, Hellofresh, Amazon Prime – sonst nicht lohnen. Tobias Haberl stellt fest: „Viele zeitgemäße Männer verachten die Alphatypen des 20. Jahrhunderts mit den Manschettenknöpfen und nehmen doch am gleichen Rattenrennen um Prestige und Anerkennung teil.“ Sie benutzen dabei nicht die Senator-Karte und Basta-Sprüche, sondern Regenbogen-Tweets und zoomtaugliche Hemden – oben Kragen, unten Sweatshirt.
Die Männer von heute sind berechenbar und opportunistisch
Die zeitgemäßen Männer begreifen sich als radikal aufgeklärt, dabei haben sie oft nur die Vorzeichen getauscht, die Muster sind geblieben. Tobias Haberl erläutert: „Sie sind berechenbar und opportunistisch, ihre Sprache ist diskriminierungsfrei, ihr Handeln nicht immer, vor Jahren haben sie mal vier Tage in einem indischen Kloster verbracht, um sich selbst zu finden – eine wahnsinnig tiefe Erfahrung.“ „Schaut mich an“, rufen sie mit jedem Blick und jeder Geste.
„Schaut mich an, ich habe verstanden, ich bin tolerant, ich bin modern, ich bin zeitgemäß.“ Und damit das auch jeder kapiert, empören sie sich pausenlos über toxische Geschlechtsgenossen und empfehlen jedem, der sie nicht darum gebeten hat, diese geniale Rooftop-Bar in Bangkok, die garantiert in keinem Reiseführer steht. Tobias Haberl fügt hinzu: „Oft melden sie sich drei Jahren nicht, um dann, wie aus dem Nichts, einen „schnellen Gruß aus NYC“ zu senden.“ Quelle: „Der gekränkte Mann“ von Tobias Haberl
Von Hans Klumbies