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Die schamlose Zeit der Kindheit erscheint wie ein Paradies

Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, hat sich laut Ulrich Greiner zum Thema Scham relativ selten geäußert. Eine Ausnahme macht er in seiner „Traumdeutung“, in der er die Lust von Kindern schildert, sich nackt zu zeigen: „Nur in unserer Kindheit gab es die Zeit, dass wir in mangelhafter Bekleidung von unseren Angehörigen, wie von fremden Pflegepersonen, Dienstmädchen, Besuchern gesehen wurden, und wir haben und damals unserer Nacktheit nicht geschämt. An vielen Kindern kann man noch in späteren Jahren beobachten, dass ihre Entkleidung wie berauschend auf sie wirkt, anstatt sie zur Scham zu leiten.“ Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Schamgefühle lassen sich nur durch die Liebe beseitigen

Für Sigmund Freud erscheint den Menschen im Rückblick die schamfreie Zeit der Kindheit wie ein Paradies. Dieser paradiesische Zustand hält solange an, bis ein Moment kommt, in dem die Scham und die Angst erwachen, die Vertreibung aus dem Paradies erfolgt, das Geschlechtsleben und die Kulturarbeit beginnt.

Dass in der Scham die Angst und die Lust miteinander zusammenhängen, auseinander hervorgehen können, ist für Ulrich Greiner nichts Neues. Als gutes Beispiel für diese Tatsache nennt er Arthur Schnitzlers Novelle „Fräulein Luise“ (1924). Es geht in dem Buch in erster Linie um den Tauschwert weiblicher Unschuld und Schönheit. Außerdem arbeite Arthur Schnitzler darin die kapitalistische Logik heraus, der zufolge alles seinen Preis hat, sogar die Liebe. Schamgefühle allerdings lassen sich nicht durch Geld beseitigen, sondern nur durch die Liebe.

In „Fräulein Else“ zeigt sich die Ungleichheit der Geschlechter

Ulrich Greiner erklärt: „Im Augenblick der liebenden Begegnung kehrt so etwas wie die paradiesische Unschuld zurück, und die Scham ist aufgehoben im wechselseitigen Blick und Einverständnis.“ In erotischen Phantasien vermischen sich Schamangst und Schamlust. Aus Schamangst kann man zu einer Schamlust gelangen, die nicht nur von Verzweiflung, sondern auch von autoerortischer Begeisterung bestimmt ist. „Fräulein Else“ ist ein Drama, das Arthur Schnitzler mit höchster Virtuosität geschildert hat. Der Kern der Geschichte ist kalt und voyeuristisch.

Die Motive der Personen liegen in der Novelle ebenso offen wie die inneren seelischen Abläufe. Die heftigen Emotionen der Hauptfiguren finden ihren Entscheidungspunkt jeweils in einem völlig rationalen Kalkül, das auf dem Gedanken des Tauschwertes basiert, und der gesellschaftskritische Impuls der Geschichte zeigt sich in der Ungleichheit der Geschlechter. Die Männer verfügen über Macht und Geld sowie über die Zukunftschancen der Frau, während das einzige Kapital der Frau ihre erotische Attraktivität darstellt.

Von Hans Klumbies

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