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Die Scham brauch die Distanz zwischen dem Ich und dem Selbst

Scham entsteht, wenn sich ein Mensch selbst gegenübertritt und sich unter dem moralischen Blick seines besseren Ichs plötzlich als mangelhaft oder gar minderwertig empfindet. Ulrich Greiner fügt hinzu: „Voraussetzung dafür ist eine Distanz zwischen meinem Ich und meinem Selbst, die im Ernstfall pathologisch werden kann.“ Diese Distanz kann aber auch Ausdruck einer Stärke sein, als wäre die Person doppelt verankert. Obgleich sie gerade dadurch zu starken Gefühlen der Scham fähig ist, gewinnt sie zugleich eine Art Wehrhaftigkeit gegen die Außenwelt. Denn nur die Distanz, die ein Mensch zu sich selber hat, erlaubt es, eine hygienische Distanz zum Nächsten aufzubauen, die vor Ansteckung schützt. Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Ernst Jünger lernt im Ersten Weltkrieg den kalten Blick

Nichts gefährdet den Stolz mehr als die Scham. Der Charaktertypus, der größten Wert auf Haltung legt, verfügt über die Eigenschaften Stolz, Unbeugsamkeit und Selbstachtung. Ulrich Greiner erklärt: „Gerade weil dieser Typus über ein hohes Maß an Reflexivität und Selbstwahrnehmung verfügt und folglich über ein hohes Maß an Schamfähigkeit, hat er ein elementares Interesse an Schamvermeidung.“ Diese gelingt diesem Typ durch Immunisierung, Kälte und durch die Kunst, sich nicht verstricken zu lassen.

In seinem Buch „Verhaltenslehren der Kälten“ hat Helmut Lethen die Schutzmaßnahme der Kälte ausführlich beschrieben: „In Augenblicken sozialer Desorganisation, in denen die Gehäuse der Tradition zerfallen und Moral an Überzeugungskraft einbüßt, werden Verhaltenslehren gebraucht, die Eigenes und Fremdes, Innen und Außen unterscheiden helfen. Sie ermöglichen, Vertrauenszonen von Gebieten des Misstrauens abzugrenzen und Identität zu bestimmen.“ Für Ernst Jünger wird beispielsweise der Erste Weltkrieg zur Schule des kalten Blicks.

Die Gemeinschaft ist das Idealbild des Zusammenseins

Das Kältekonzept von Ernst Jünger ist unbedingt elitär. Es hat jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts konträre Bewegungen gegeben, die den Rationalismus der Kälte durch die Wärme einer gleichgestimmten Emphase für etwas Gemeinsames ersetzen wollten. Dieses Gemeinsame firmierte dann unter verschiedenen Namen: König und Vaterland bei den Konservativen, sozialistische Internationale bei den Linken oder Volk und Rasse bei den Rechten. In seiner Streitschrift „Grenzen der Gemeinschaft“ aus dem Jahr 1924 hat der Soziologe Helmuth Plessner diesen Antagonismus mit den Begriffen „Gemeinschaft“ versus „Gesellschaft“ in aller Schärfe ausgearbeitet.

Er reagiert damit auf die 1887 erstmals veröffentlichte Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies. Gemeinschaft beruht laut Ferdinand Tönnies auf dem „Gefühl der Zusammengehörigkeit“. Sie entsteht durch verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und freundschaftliche Beziehungen. Ferdinand Tönnies sieht in ihr die ursprüngliche Form und zugleich das Idealbild des menschlichen Zusammenseins. Die moderne Gesellschaft dagegen ist nur ein willkürliches Nebeneinander. Quelle: „Schamverlust“ von Ulrich Greiner

Von Hans Klumbies

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