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Die Psychosomatik hat stark an Bedeutung gewonnen

Es ist eigentlich ein großartiger Fortschritt, dass Ärzte und Patienten beim Thema Kranksein heutzutage auch an die Psyche denken. Dass sie wissen: Rückenschmerzen sind allzu oft Ausdruck einer gequälten Seele. Manchen Patienten mit Migräne hilft es, den Tag gut zu strukturieren und ihre Ansprüche an sich selbst zu überdenken. Und Herpesviren treten vor allem dann auf, wenn ein gestresstes Immunsystem ihnen die Chance gibt, sich aus ihrem Versteck in den hintersten Nervenenden in Richtung Lippen zu bewegen und dort Bläschen zu bilden. Eigentlich muss man froh sein, dass die Psychosomatische Medizin stark an Bedeutung gewonnen hat. Inzwischen werden psychische Krankheiten ebenso ernst genommen wie körperliche und nicht abgetan als Reaktion von Schwächlingen auf eine nun mal harte Welt.

Nicht hinter jeder Krankheit lauert ein furchtbares Geheimnis

Leider ist das an sich begrüßenswerte Phänomen der ernst genommenen Seele gerade dabei, sich zu übersteigern ins Absurde. Man darf kaum noch sagen, dass man erkältet ist, ohne dass es gleich heißt: Das hat bestimmt auch seelische Ursachen. Der Betroffene ist aus dem Gleichgewicht, braucht einen Therapeuten, er sollte mal hingucken, was so alles bei ihm schiefgelaufen ist in letzter Zeit. Als könnte man nicht ab und zu einen rein körperlichen Kampf mit Bakterien austragen. Denn es ist nicht immer alles psycho.

Viele Menschen haben es fast vergessen, aber es gibt tatsächlich Situationen, in denen man einfach krank wird, ohne dass dahinter ein furchtbares Geheimnis lauert. Harald Gündel, Direktor der Psychosomatik an der Universitätsklinik Ulm, erklärt: „Viele Patienten haben zu hohe Ansprüche an sich selbst, aber es sind eben nicht alle.“ Wer hinter jedem körperlichen Problem einen Weckruf der Seele vermutet, bürdet dem Kranken nicht nur eine zusätzliche Last auf. Er verkennt womöglich auch die wahren Hintergründe des Unwohlseins.

Stress kann bei der Entstehung von Krankheiten durchaus eine Rolle spielen

Zweifellos nimmt ein Mensch nicht jede Erkältung mit, die ihm ein Arbeitskollege über den Tisch niest. Mal ist er mehr, mal weniger empfänglich dafür, und bis heute forschen Wissenschaftler mit Akribie daran, das Rätsel von Ansteckung oder Abwehr zu lösen. Stress kann dabei durchaus eine Rolle spielen: Wenn der Körper unter Druck ist, schüttet er das Stresshormon Cortisol aus. Es hemmt das Immunsystem. Die Eintrittspforte für Erreger in den Körper steht dann offen. Der Professor für Psychosomatik Harald Gündel betont: „Es ist absolut überzogen, aus einer Erkältung den Schluss zu ziehen, dass man gestresst ist.“

Harald Gündel fährt fort: „Erst wenn Erkältungen chronisch werden, ist das ein Warnsignal.“ Trotzdem betreibt eine große Gemeinde von Ärzten und Laien inzwischen Psycho-Medizin. Einschlägige Ratgeber wissen genau, welches seelische Ungleichgewicht angeblich hinter welchem Krankheitsbild steckt. Im krassen Fall glauben Menschen so sehr an einen seelischen Hintergrund ihrer Leiden, dass sie lieber zum Geistheiler gehen, als sich einer wirksamen Therapie zu unterziehen. Auch bei Leiden des Alltags ziehen Menschen inzwischen überzogenen psychologisierende Schlüsse und doktern damit an der falschen Stelle herum. Quelle: Süddeutsche Zeitung

Von Hans Klumbies

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